Eine Idee von Esther Klein-Tarolli.

 

weitere Informationen unter www.bewegtes-lagern.com

 

Geschichte

Rebekka Knobel: Wie ist Bewegtes «Lagern» entstanden?
Esther Klein-Tarolli: Vor 20 Jahren war das Thema Lagern vor allem von der Bobath-Lagerung und der Angst vor dem Dekubitus beeinflusst. Wir weckten die PatientInnen alle 2-4 Stunden, um sie auf die andere Seite zu drehen. Dabei hatte ich immer ein ungutes Gefühl, diese kranken Menschen die ganze Nacht durch im Schlaf zu stören. Zusätzlich habe ich beobachtet, dass viele PatientInnen unsere so wohl gestalteten Bobath-Lagerungen zerstörten, indem sie die Kissen aus den Betten warfen.

Knobel: Und die Angst vor dem Dekubitus?
Klein-Tarolli: Die ist berechtigt. Denn wenn jemand wund liegt, ist dieser Mensch in seiner Lebensqualität schwer beeinträchtigt. Um Dekubitus zu verhindern, wurde dann nebst der Bobath-Lagerung die 30-Grad-Lagerung propagiert: Dadurch entstehen weniger punktuelle Auflagestellen. Wir hatten aber dafür gar kein geeignetes Material. Also habe ich begonnen, Schaumstoffkeile zu schneiden und mit einem Anzug zu versehen. Wir legten je einen unter die Rückseite des Beckens und des Brustkorbes.

Knobel: Die Keile waren Ihre ersten Produkte?
Klein-Tarolli: Ja genau. Die Keile erzeugten aber eine Spannung in den Beinen. Also suchten wir etwas, um die Beine zu unterstützen. In den 1990iger Jahren haben wir dann in Kinaesthetics immer besser verstanden, dass eine Position einnehmen nicht «nichts-tun» sondern eine differenzierte Aktivität ist.

Knobel: Das müssen Sie genauer erklären.
Klein-Tarolli: Menschen können sich nicht nicht bewegen. Wenn man steht, sitzt oder liegt, bewegt man ständig das eigene Gewicht in der Schwerkraft und passt sich an. Diese kleinen, von aussen kaum sichtbaren Bewegungen, sind für die menschliche Entwicklung sehr wichtig. Wenn Menschen gesund sind, organisieren sie diese Anpassungsbewegung selbst. Krankheit kann dazu führen, dass die Möglichkeit das Gewicht zu verlagern verloren geht und die Körperspannung steigt. Dies führt zu einer verminderten Körperwahrnehmung und begünstigt damit den Dekubitus.

Knobel: Und die Patienten warfen Kissen aus dem Bett.
Klein-Tarolli: Genau. Sie konnten die notwendige Anpassung nicht mehr machen. Wir hatten früher die seltsame Idee, ein Mensch sei gut gelagert, wenn er nach 3-4 Stunden noch immer in derselben Position verweilte. Das aber kann niemand aushalten. Wenn man keine andere Wahl hat, steigt, wie schon erwähnt, die Spannung ins unermessliche und es entstehen Schmerzen.

Knobel: Die Idee Positionsunterstützung haben Sie weiterverfolgt?
Klein-Tarolli: Nicht nur ich. Viele andere auch. Im Kinaesthetics-Grundkurs habe ich diese Idee in das Thema Umgebungsgestaltung integriert. Wir stellten die Frage: Wie beeinflusst die Umgebung das «sich positionieren». Die Pflegenden waren sehr interessiert, weil es vielen ging wie mir. Sie fühlten sich schlecht, die Menschen ständig zu wecken. Ich habe dann gemerkt, dass die Positionsunterstützung anderes Material braucht. Das Material auf dem Markt war unflexibel und eigentlich unbrauchbar.

Knobel: Warum unbrauchbar?
Klein-Tarolli: Es waren oft Spreusäcke. Diese saugen viel Körperfett und Schweiss auf. Das ist im privaten Bereich unproblematisch. In einer Pflegeinstitution sollten aber die Kissen inklusive Inhalt aus hygienischen Gründen 95 Grad waschbar sein. Das geht nur mit synthetischem Material. Die Kissenfüllung ist ein Knackpunkt. Sie muss einerseits Stabilität vermitteln und andererseits beweglich und anpassungsfähig sein. Stefan Knobel hatte mir seinerzeit erzählt, er kenne jemanden, der mit einem guten Füllmaterial experimentiere.

Knobel: Und dieses Material haben Sie erhalten?
Klein-Tarolli: Zuerst nicht. Ich bin aber hartnäckig drangeblieben. Nach zwei Jahren konnte ich meine ersten Rollen produzieren lassen. Das Inselspital hatte sich bereit erklärt, dieses Material einzusetzen.

Knobel: Bewegtes «Lagern» war geboren?
Klein-Tarolli: Ja, aber es war nur der Anfang. Auf der Intensivpflege wollten sie lange Rollen mit farbigen Bezügen. Sie hatten die Idee, diese Rollen würden die Wahrnehmung unterstützen. Anfänglich war es gar nicht einfach, den Gedanken zu transportieren, dass nicht die Rollen, sondern in erster Linie das Wissen und Können der Pflegenden die Wahrnehmung der Patienten unterstützen. Die Rolle kann noch so gut sein: Wenn man die Menschen stundenlang in der gleichen Position liegen lässt, schwindet ihre Wahrnehmung.

Knobel: Position unterstützen als Gegenpol zum «Lagern».
Klein-Tarolli: Gelagert werden Konserven oder edle Weine. Menschen brauchen aber lebensnotwendig permanente Bewegung. Wenn sie diese nicht mehr selbst organisieren können, brauchen sie gezielte Unterstützung. Dann haben Pflegende die sogenannten «Mikrolagerungen» entdeckt. Es geht um kleine, spürbare Bewegungen zur Lageveränderung. Jede dieser Veränderungen verteilt den Auflagedruck neu. Wenn jemand das nicht mehr selbst tun kann, muss ich ihm dabei helfen. Wenn Sie es selbst ausprobieren, jede Anpassungsbewegung unterdrücken, bemerken Sie schon nach wenigen Minuten, dass Sie der steigenden Muskelverspannung nur durch kleine Anpassungsbewegungen entgegenwirken können.

Knobel: Welche Rolle spielt das Material?
Klein-Tarolli: Das Material ist wichtig. Darum habe ich mich auch dafüf engagiert. Aber die Qualität entsteht, wie gesagt, im Zusammenspiel zwischen dem Wissen der Pflegenden und dem Material. Das Material ist dann geeignet, wenn es einerseits die Eigenbewegung unterstützt und andererseits vielfältig eingesetzt werden kann. Eines Tages ist Cilly Valär zu mir gekommen. Sie wollte eine längere aber nur 11 cm dicke Rolle. Wir haben dieser 2.5 m langen Rolle dann den Namen «Valenser Rolle» gegeben. Mit dieser Rolle unterstützt Cilly Valär Menschen mit hoher Körperspannung in der vollen Bauchlage. Wenn Spastik in der Bauchlage einschiesst, dann ist es nur ein kurzer Weg in die Spannungsveränderung und das gelingt mit dieser dünnen Rolle sehr gut.

Knobel: Woher kommt der Name «Valenser Rolle»?
Klein-Tarolli: Cilly Valär arbeitet in Valens auf der Neurorehabilitation. Ich wollte damit zeigen, dass Bewegtes «Lagern» eher ein Ort ist, wo man miteinander Ideen entwickelt. Auch in meinen Kursen erarbeiten die Pflegenden kreative Ideen, die ich dann in mein Konzept integriere. Manchmal ergibt sich dann auch ein neues Kissen. So entstanden auch die drei sogenannten Multifunktionskissen. Es ist ein gemeinsamer Entdeckungsprozess.

Knobel: Ihre Arbeit hat das Wissen und Können der Pflegenden geprägt.
Klein-Tarolli: Das war nur möglich, weil wir nicht das Material in den Mittelpunkt stellten. Es geht um menschliche Kompetenz. Wir haben noch viel zu entdecken. Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen. Darum steht Bewegtes «Lagern» jetzt vor einer neuen Etappe.

Knobel: Wie meinen Sie das?
Klein-Tarolli: Ich fasse allmählich meinen Rückzug aus dem Berufsleben ins Auge. Ich möchte, dass sich das Konzept Bewegtes «Lagern» auch nach meiner Pensionierung weiterentwickelt und meine Idee auf eine breitere Basis gestellt wird. Darum bin ich froh, dass ich Menschen gefunden habe, die das Projekt weitertragen und mithelfen, die nächsten inhaltlichen Schritte zu finden.

Knobel: Das heisst konkret?
Klein-Tarolli: Die nächsten zwei Jahre entwickle ich zusammen mit der stiftung lebensqualität das Pflegekonzept Bewegtes «Lagern» weiter. Ich habe auch im Sinn, die Urheberrechte an die Stiftung zu übertragen. Ich hoffe, dass die Idee so in Bewegung bleibt. Mir ist wichtig, dass nicht nur Kissen verkauft werden. Es geht vielmehr darum, die Menschen in ihrem individuellen Potenzial so zu unterstützen, dass sie selbst in der Lage sind, ihre Bewegungskompetenz zu entwickeln. Denn alles, was ein Mensch selbst für sich tun kann, ist für ihn wertvoller und effektiver als jede gutgemeinte Pflege, die eher Abhängigkeit fördert.

Knobel: Wo sehen Sie das Potential für die Zukunft?
Klein-Tarolli: Durch das Wissen kombiniert mit dem Material sollen die Pflegenden erfahren können, dass die gute Pflege auch auf der körperlichen Ebene eine Art Dialog ist, ein aufeinander Zugehen, das am Schluss Freude macht. Sie sollen auf einfache und effektive Weise ihre Patienten in ihren Eigenbewegungen anregen können. Die Pflegenden sollen erfahren, dass Bewegung mehr zählt als „lagern“. Denn alles, was ein Mensch selbst tun kann, soll von ihnen wertgeschätzt werden.

Knobel: Das braucht aber Schulung.
Klein-Tarolli: Unbedingt! Wichtig ist, dass die Pflegenden den Einfluss der Umgebung auf das Sich-Positionieren verstehen. Wie schon erwähnt, ist das Material zwar wichtig, viel zentraler ist jedoch, dass die Pflegenden das Thema von der menschlichen Aktivität her begreifen. Deshalb habe ich spezielle Schulungen entwickelt, in denen die Pflegenden lernen, das Positionieren zu verstehen und die Wirkungszusammenhänge zu beschreiben. Das Wissen beruht auf Kinaesthetics. Am Anfang geht es aber darum, ein Verständnis für die eigene Bewegung zu entwickeln, zu entdecken wie, wo und was mich in Bewegung bringt. Erst dann kann ich die Bewegungen in den Positionen nachvollziehen. Es ist auch wichtig, die Positionsunterstützung an sich selbst zu erfahren. Erst wenn ich erfahren habe, was es braucht, damit ich mit wenig Aufwand die Position verändern kann, kann ich dasselbe bei den Betroffenen auch anstreben. Oft sind diese Eigenerfahrungen für die Kursteilnehmerinnen so eindrücklich, dass sie für sich selbst Rollen und Kissen bestellen und mir dann oft gute neue Ideen für deren Einsatz mitteilen.